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Foreign Agent

Lecture Performance
18. Mai 2024
Tbilisi Photography & Multimedia Museum, Georgien.

War Studies

Tbilisi, Georgien, 17. Mai 2024

ᵈᵉSeit Beginn diesen Jahres bin ich Stipendiatin im Berliner Programm Künstlerische Forschung 2024/25. In den kommenden zwei Jahren werde ich mich mit dem Thema Kunst und Krieg auseinandersetzen und im interdisziplinären Dialog meine Arbeitsweise weiterentwickeln. Ich gehe in dem Projekt davon aus, dass politische Systeme und Ideenwelten wie Sozialismus, Kapitalismus oder Faschismus eigene künstlerische Ausdrucksformen in Bezug auf Kunst und Krieg hervorgebracht haben, die (vom Wohnzimmer über den Schützengraben bis zum Museum) unsere Gegenwarten prägen. Ich führe verschiedene Themen zusammen, mit denen ich mich seit mehreren Jahren auseinandersetze und die ich für relevant für das Verständnis der Gegenwart halte und unumgänglich für die Imagination von Zukunft. Neben der Recherche und der Arbeit mit Wissenschaftler_innen werde ich meine künstlerische Forschung in Form von Vorträgen, Diskussionen, Performances, Interventionen und Ausstellung öffentlich machen. Im Folgenden eine Auswahl meiner geplanten öffentlichen Veranstaltungen im Frühling.

ᵉⁿSince the beginning of this year, I am a fellow of the Berlin Artistic Research Program 2024/25. Over the next two years, I will examin the topic Art and War further develop my artistic practice in an interdisciplinary dialogue. In this project, I assume that political orders and their believe systems such as socialism, capitalism, or fascism have produced their own artistic forms of expression in relation to art and war, which (from the living room to the trench to the museum) characterise our present. I bring together various themes that I have been dealing with for several years and that I consider relevant for understanding the present and essential for imagining the future. In addition to this research and work with academics, I will be making my artistic research public in the form of lectures, discussions, performances, interventions and exhibitions. Below is a selection of my planned public events in spring.

Foreign Agent – Lecture Performance in Tbilisi, Georgia

18. Mai 2024

Tbilisi Photography & Multimedia Museum  (TPMM)
Stamba D Block, 14 M. Kostava St.
Tbilisi, Georgien

Opening of the exhibition Evrovizion
17.00 Lecture Performance Foreign Agent by Henrike Naumann

ᵉⁿOn the occasion of the opening of the ifa-exhibition Evrovizion in Tbilisi, Georgia I will present my new lecture performance Foreign Agent, produced for this moment in Georgian history.

ᵈᵉAnlässlich der Ausstellungseröffnung der ifa-Ausstellung Evrovizion in Tiflis, Georgien, präsentiere ich meine neue Lecture Performance Foreign Agent, die ich für diesen Moment der georgischen Geschichte produziert habe.

Culture Wars in Times of Real Wars – Lecture Zürich

24. Mai 2024 09.30 – 22.00
Museum für Gestaltung Zürich
Ausstellungsstrasse 60, Zürich

ᵈᵉSymposium – Zentrum Künste und Kulturtheorie (ZKK) der Universität Zürich (UZH) und Zürcher Kunsthochschule (ZHdK)

ᵉⁿSymposium – Inaugurating the New Center for Arts and Cultural Theory (ZKK) of University of Zurich (UZH) and Zurich University of the Arts (ZHdK)

14.00 – 16.00 Cuture Wars in Times of Real Wars
Lecture Henrike Naumann and conversation with Sandra Frimmel

Breathe Screening – Kyiv Perennial – Symposium „Völkerfreundschaft“

ᵈᵉWas bleibt von der Völkerfreundschaft?
ᵉⁿWhat remains of the „friendship between peoples“?
A symposium of the Prater Gallery, curated and organized by Lena Prents and Antonina Stebur

Saturday, 01. June 2024 11.00 – 19.00
Stadtwerkstatt, Karl-Liebknecht-Str. 11, 10178 Berlin + ngbk

19.00 – 20.00 Screening Breathe by Henrike Naumann / SI_Process
with a conversation between Henrike Naumann and Vasyl Cherepanyn


ᵉⁿI am very excited to show the video documentation of our performance Breathe from last year’s Kyiv Biennial in Ivano-Frankivsk, Ukraine. It will mark the end of this promising symposium on „Völkerfreundschaft“ at ngbk on Alexanderplatz.

ᵈᵉIch freue mich sehr, die Videodokumentation unserer Performance Breathe von der letzten Kyiv Biennale in Iwano-Frankiwsk, Ukraine zu zeigen. Sie bildet den Abschluss dieses spannenden Symposiums zum Thema „Völkerfreundschaft“ im ngbk am Alexanderplatz.

INFOS

Lecture – Schloss Augustusburg Chemnitz

Lecture Henrike Naumann – Augustusburg 1933–1945
Mittwoch, 29. Mai 2024 18.30
Schloss Augustusburg
Schloss 1, 09573 Augustusburg, Sachsen

ᵈᵉAusgehend von meiner Arbeit Ruinenwert (2019), der Ausstellung Einstürzende Reichsbauten (2021) und meiner Intervention in die Ausstellung Die Reise der Bilder (2024) spreche ich im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Augustusburg 1933–1945“ in einem Vortrag über die Möglichkeiten der zeitgenössischen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

ᵉⁿBased on my work Ruinenwert (2019), the exhibition Einstürzende Reichsbauten (2021) and, most recently, my intervention in the exhibition Die Reise der Bilder (2024), I will talk about the possibilities of contemporary artistic engagement with National Socialism in my lecture as part of the event series “Augustusburg 1933-1945”.

Gegenromantik – Talk mit Kito Nedo in Greifswald

Freitag, 31. Mai 2024 18.00
Spielhalle KUNST
Mühlenstraße 27/28
17489 Greifswald

ᵈᵉGespräch über das kritische Potenzial von Kunst und des Schreibens über Kunst, über die (Ohn-)Macht der Kritik und Auseinandersetzungen am Rand des Kunst-Ereignisses – und mittendrin.

ᵉⁿTalk about the critical potential of art and writing about art, about the power(lessness) of criticism and debates on the fringes of the art event – and right in the middle of it.

Triadisches Ballett im Wohnzimmer – Schlemmer-Meisterhaus Dessau

ᵈᵉDauerhafte Möbelinstallation von Henrike Naumann im Wohnzimmer des Schlemmer-Meisterhaus Dessau.

Opening Samstag 01. Juni 2024  11.00
Meisterhaus Muche / Schlemmer
Ebertallee 65/67, 06846 Dessau-Roßlau

Mich interessierte: was wäre, wenn die Figuren aus Schlemmers Triadischem Ballett hundert Jahre nach der Uraufführung 1922 ein Meisterhaus in Dessau beziehen würden? Wie würden sie sich einrichten? Würden sie die Renovierungen aus der DDR-Zeit übernehmen? Mit welchen Möbeln würden sie sich wohlfühlen? Würden sie auf eBay Kleinanzeigen in Dessau fündig werden? Als Beitrag zum Projekt Gracious Hosts bin ich in die Rolle der Innenarchitektin für die Figuren des Triadischen Ballets geschlüpft. Für die künstlerische Ausstattung bezog ich meine Inspiration aus der originalen Farbwandgestaltung, aus den Ergänzungen aus DDR-Zeiten und aus der Alltagsästhetik der Dessauer*innen, wie sie sich auf eBay Kleinanzeigen darstellt.

ᵉⁿPermanent furniture installation by Henrike Naumann in the living room of the Schlemmer-Meisterhaus Dessau.

I was interested: what if the characters from Schlemmer’s Triadic Ballet were to move into a master house in Dessau one hundred years, after the premiere in 1922? How would they settle in? Would they adopt the renovations from the GDR era? What furniture would they feel comfortable with? Would they find what they were looking for on eBay classifieds in Dessau? As a contribution to the Gracious Hosts project, I slipped into the role of interior designer for the characters of the Triadic Ballet. For the artistic interior design, I drew my inspiration from the original colour wall design, from the additions from the GDR era and from the everyday aesthetics of the people of Dessau as they appear on eBay classifieds.

Demokratie. Wählen! Nicht schießen! Ausstellung in Zwickau

Eröffnung 07. Juni 2024
Ausstellung 11. Juni. – 01. November 2024
Freunde Aktueller Kunst Zwickau
Hauptstraße 60-62
08056 Zwickau

ᵈᵉGruppenausstellung zu Kurt Tucholskys Gedicht Absage (1920). Mit einem Beitrag von mir mit dem Titel Koka Kola Freiheit (2024).

ᵉⁿGroup exhibition on Kurt Tucholsky’s poem Absage (1920). With my contribution Koka Kola Freiheit (2024).

Innere Sicherheit. Eine Intervention
Mauer-Mahnmal im Deutschen Bundestag

Opening Mittwoch 12. Juni 2024  18.00
12. Juni – 29. September 2024
Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
Zugang über die Spree-Uferpromenade
Schiffbauerdamm, 10117 Berlin

www.kunst-im-bundestag.de

ᵈᵉIn diesem Jahr wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages hat die Künstlerin Henrike Naumann eingeladen, im Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus eine Ausstellung zu realisieren, deren gedanklicher Ausgangspunkt das Grundgesetz in seiner ersten Fassung aus dem Jahr 1949 ist – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR, die fast zeitgleich eine Verfassung verabschiedete. 

Henrike Naumann entschied sich dazu, entlang der ehemaligen Hinterlandmauer zwei Arbeiten miteinander in Beziehung zu setzen: Die Möbelinstallation Das Reich (2017) thematisiert die Reichsbürgerbewegung und deren Verweigerung, den Einigungsvertrag zwischen DDR und Bundesrepublik anzuerkennen, weil – so hatte es das Grundgesetz 1949 festgeschrieben – kein Friedensvertrag geschlossen worden war. Im Weltbild der Reichsbürger besteht das Deutsche Reich deshalb weiter fort, sie verstehen sich als „indigenes Volk“ in einem besetzten Land und rüsten sich für einen Tag X, an dem das Deutsche Reich nach gewonnenem Kampf wiederauferstehen wird. In der Multimediainstallation Tag X (2019) verschwimmen die zeitlichen Bezüge zwischen 1989 und einer Zukunft, in der es auf dem Alexanderplatz zu einem politischen Umsturz kam. Wurde der Sozialismus besiegt oder mit einer rechten Revolution ein neuer Staat errichtet? 

Naumanns Arbeiten zum Einigungsvertrag und zur Friedlichen Revolution 1989, aber auch zur Reichsideologie und Utopien eines rechten Systemumsturzes verdichten sich in dem zerteilten Raum zu einem herausfordernden Diskussionsangebot und zeigen ihre verstörende Aktualität.

Innere Sicherheit. An Intervention
Wall memorial in the German Bundestag

ᵉⁿThis year marks the 75th anniversary of the Basic Law. The Art Advisory Council of the German Bundestag has invited the artist Henrike Naumann to realize an exhibition in the Wall Memorial in the Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, whose conceptual starting point is the Basic Law in its first version from 1949 – not only in the Federal Republic, but also in the GDR, which passed a constitution at almost the same time.  

Henrike Naumann decided to place two works in relation to each other along the former Hinterlandmauer: The furniture installation Das Reich (2017) focusses on the Reich Citizens‘ Movement and its refusal to recognize the unification treaty between the GDR and the Federal Republic of Germany because – as the Basic Law stipulated in 1949 – no peace treaty had been concluded. In the world view of the Reich Citizens, the German Reich therefore continues to exist; they see themselves as an “indigenous people” in an occupied country and are preparing for a Day X, when the German Reich will rise again after a victorious battle. In the multimedia installation Tag X (2019), the temporal references between 1989 and a future in which there was a political upheaval on Alexanderplatz become blurred. Was socialism defeated or was a new state established with a far-right revolution?

Naumann’s works on the Unification Treaty and the Peaceful Revolution of 1989, but also on the ideology of the Reich and utopias of a far-right system overthrow, condense in the fragmented space into a challenging offer for discussion and demonstrate their disturbing topicality.

ᵈᵉHenrike Naumann ist Stipendiatin des Berliner Programm Künstlerische Forschung 2024/25. Künstlerische Forschung beauftragt durch das Berliner Programm Künstlerische Forschung.

ᵉⁿHenrike Naumann is a fellow at the Berlin Artistic Research Program 2024/25. Artistic Research commissioned by the Berlin Artistic Research Program.

INFOS

Photos
Henrike Naumann, eBay, Shaza Musa, Olesia Saiienko, Harald Hauswald, Violetta Walkobinger, Torsten Rütz, Tuan Do Duc, eBay Kleinanzeigen, Inga Selck

What comes after Postmodernism?

Vortrag in der Bundeskunsthalle Bonn im November 2023.
Link zur deutschen Übersetzung.

Kyiv Biennial

Kyiv Perennial opening this week in Berlin!
Program and infos here

Screening of the Breathe documentationas part of the Kyiv Perennial
June 2024, Berlin
details coming soon

Press Kyiv Biennial 2023

New York Times on the Kyiv Biennial 
„the most energizing exhibizion of the year“


Süddeutsche Zeitung zur Kyiv Biennale
„Ausstellung des Jahres“


Monopol Top 100
22 – Henrike Naumann


Interview Postimpreza

RBB Kultur – Das Gespräch
Henrike Naumann – Kunst in konfliktreichen Zeiten

Gegen die Logik des Krieges – Kyiv Biennale 2023

„Breathe the pressure
Come play my game, I’ll test ya
Psychosomatic, addict, insane
Breathe the pressure
Come play my game, I’ll test ya
Psychosomatic, addict, insane
Come play my game
Inhale, inhale, you’re the victim
Come play my game
Exhale, exhale, exhale“
The Prodigy – Breathe, 1995

Am 8. Dezember 1995 spielten The Prodigy zum ersten Mal ihren Song Breathe in der Pionir-Halle in Belgrad, Serbien. Es war die letzte Woche des Bosnienkriegs, und es war eine umstrittene Entscheidung für die britische Band, inmitten internationaler Sanktionen ein Konzert im Land des Aggressors zu spielen. Seit ich das Video von diesem Konzert gesehen habe, hat der Song für mich an Intensität und Gewalt gewonnen. Der Möglichkeitsrahmen einer Band, die die Grenzen von Clubmusik und klanglicher Transgression auslotet.

„When I was younger I thought
That to kill or be killed
Was a thing to be proud of
Victim of change
Prisoner of hope, hanged by the neck
On the end of a rope
I don’t know… I don’t care…“
Bruce Dickinson (Iron Maiden) – Gods of War, 1994

Ein Jahr zuvor, im Dezember 1994, hatte Bruce Dickinson von der Heavy-Metal-Band Iron Maiden mit seiner Band Skunkworks ein Konzert im bosnischen Kulturzentrum in der belagerten Stadt Sarajevo gegeben. Der Fotograf Milomir Kovačević Strašni erinnert sich: „Das Konzert habe ich in einer Art Dunst erlebt. Wahrscheinlich habe ich deshalb so viele Fotos gemacht. Ohne die Energie und den Wahnsinn hätte ich sicher nicht sieben Rollen Film verbraucht. Vielleicht waren es sogar meine letzten sieben Rollen. Die ganze Atmosphäre mit dem Publikum und all dem hat mich in eine andere Zeit zurückversetzt, in ein Leben, das ich früher gelebt habe, und in die Dinge, die ich vor dem Krieg gemacht habe.“ (Quelle: Dokumentarfilm Scream for me Sarajevo, 2016)

„V̶L̶A̶D̶I̶M̶I̶R̶ VOLODYMYR
Er hat nicht gesagt, dass er mit Sicherheit kommen wird.“
Samuel Beckett – Warten auf Godot, 1952

Ein Jahr vor diesem Konzert, im August 1993, hatte Susan Sontag Becketts Warten auf Godot am Jugendtheater von Sarajewo inszeniert. Ihr Biograph Benjamin Moser schreibt: „Diese Aufführung wurde ohne Elektrizität und ohne Kostüme, die diesen Namen verdienen, inszeniert, und das Bühnenbild bestand lediglich aus Plastikplanen, die von den Vereinten Nationen verteilt wurden, um von Heckenschützen zerschossene Fenster abzudecken.“ Während sie versuchte, internationale Aufmerksamkeit auf die Situation der Menschen in Sarajewo zu lenken, stieß ihr Engagement auch auf Kritik. Jean Baudrillard schrieb in seinem Text Kein Mitleid für Sarajevo: „Kürzlich kam Susan Sontag nach Sarajevo, um dort Warten auf Godot zu inszenieren. […] Das Schlimmste ist nicht diese zusätzliche Portion kultureller Seele. Es ist vielmehr die Herablassung und Fehleinschätzung von Stärke und Schwäche. Sie sind es, die stark sind, wir sind es, die schwach sind – und die in ihren Ländern nach dem suchen, was es braucht, um unsere Schwäche und unseren Realitätsverlust zu erneuern.“

„Für Frieden. Gegen Krieg. Wer ist das nicht?
Aber wie kann man diejenigen aufhalten, die auf Völkermord aus sind, ohne Krieg zu führen?“
Susan Sontag, 1999

Der Philosoph Boris Buden zitiert Baudrillards Kritik an Sontag in seinem Essay Field Trip to Reality von 1997. Sein 2009 erschienenes Buch Zone des Übergangs – Vom Ende des Postkommunismus wurde 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zu einem unverzichtbaren Werk für Künstler, Kuratoren und linke Intellektuelle im ehemaligen „Ostblock“, auch in der Ukraine. So waren die Ukrainer_innen zutiefst irritiert von seinem Text The West at War, der im April 2022 auf e-flux veröffentlicht wurde – als Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine. Da der einzig hoffnungsvolle Teil des Textes, der Schlussteil, in dem Buden in der Revolution innerhalb Russlands seine Vision für das Ende des Ukrainekrieges sieht, von vielen missverstanden wurde, bezog sich Buden in einer Podiumsdiskussion im September 2023 in Berlin auf diesen Textteil und stellte klar, dass er mit der Revolution eine „kommunistische Weltrevolution“ als Lösung der Situation gemeint hatte. Diese Aussage lies das ukrainische Publikum ratlos zurück. Die Missachtung der Lebensumstände der Ukrainer_innen, ihren Bedürfnissen und Forderungen zeigt, wie unverantwortlich es ist, die Schlussfolgerungen aus den Jugoslawienkriegen mit dem Krieg in der Ukraine zu vergleichen. Dieser Logik folgend, sollten all die Forderungen der Ukrainer_innen nach nationaler Souveränität und Respekt für ihre Grenzen zum Schutz ihrer Bürger nicht in Betracht gezogen werden, da sie sich auf nationales Recht berufen. Es ist aber umso wichtiger, auf die aktuellen Stimmen zu hören, die jetzt aus der Kriegsregion kommen.

„Wir müssen den Faschismus verstehen und bekämpfen, nicht weil ihm so viele zum Opfer gefallen sind, nicht weil er dem Siegeszug des Sozialismus im Wege steht, nicht einmal, weil er „wiederkommen“ könnte, sondern vor allem, weil er als eine unter bestimmten Bedingungen ständig präsente und mögliche Form der Wirklichkeitsproduktion zu unserer Produktion werden kann und wird.“
Klaus Theweleit – Männerphantasien, 1987

Klaus Theweleits Buch Männerphantasien aus dem Jahr 1987 kann als eines der Standardwerke zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Phantasien einer Gruppe von Männern, die eine entscheidende Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus spielten. Seine Perspektive auf die Ideologie, die die Männer prägte, die für die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verantwortlich waren, hat mir geholfen, die Wurzeln des Faschismus in Deutschland zu verstehen und auch, wie diese Strukturen bis heute weiterleben. Ich respektiere sein Schreiben und Denken sehr, deshalb war ich schockiert über seine Aussagen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. „Wenn die Leute nach Waffen schreien, höre ich in erster Linie: sie machen innergesellschaftliche Freiheiten bei uns kaputt. Jedenfalls sind sie auf dem Weg.“ (Klaus Theweleit im Gespräch mit Jakob Augstein, 2023). Wo er sich weigert, die Situation der Ukrainer zu sehen und zu verstehen, die in Frieden, frei und selbstbestimmt leben wollen. Dass die pazifistische Forderung nach einer Kapitulation der Ukraine vor dem Aggressor in einem völkermörderischen Krieg die Machtdynamiken verstärkt, die er in Männerphantasien so treffend beschrieben hat. Ich habe mir die Freiheit genommen, Theweleit selbst zu zitieren, und zwar aus seinem Buch über den Kolonialismus, das uns, wenn wir es in den Kontext des imperialen Krieges Russlands stellen, die Augen öffnen kann für die Schwierigkeit, von den Opfern eines Krieges Pazifismus zu verlangen:

„Welche Chance habe ich, ein Pazifist zu sein, wenn alle Kulturtechniken, durch die ich atme, wahrnehme, denke, produziere, durch die ich liebe und lebe, selbst Gewalt sind, wenn meine Friedfertigkeit selbst Gewalt einschließt?“
Klaus Theweleit – HON, 2020

Als ich die Einladung zur Teilnahme an der diesjährigen Kyiv Biennale erhielt, dachte ich an The Prodigy, Susan Sontag und Iron Maiden und ihre Gründe, Kunst im Kontext eines Krieges zu machen. Was ist mein Grund, in die Ukraine zu reisen? Kann eine Biennale dazu beitragen, dass die Menschen in einem Kriegsgebiet in einem neuen Zustand der Normalität überleben? Und wird es außerhalb der Ukraine Empathie hervorrufen, wenn man nicht jeden Tag die gleiche Zerstörung sieht, sondern Menschen, die sich nach einem Leben in Frieden sehnen? Möchte ich meinen Sinn für die Realität wiedererlangen? Oder ist es so, dass ich die Bedeutung der Begriffe „Ost“ und „West“, nicht mehr aus der Perspektive Deutschlands bearbeiten kann, sondern es am aktuellen Kristallisationspunkt dieser Frage diskutieren muss, in der Ukraine?Ich nehme dies als Ausgangspunkt für das Projekt OSTBLOCK, das seit 2021 in Zusammenarbeit mit dem ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Entwicklung ist. Über mehrere Jahre hinweg werde ich in die Länder reisen, die diplomatische Beziehungen zur ehemaligen DDR hatten, und mit denen ein Künstleraustausch stattfand. Ich sehe meine Praxis in der Tradition dieser künstlerischen Beziehungen, die die ehemals sozialistische Welt umspannen. Heute, in einer Situation, die nicht mehr als „postsozialistisch“ bezeichnet werden kann und in der uns die kalten und heißen Kriege zwingen, die globale Ordnung neu zu überdenken, möchte ich die Rolle untersuchen, die Geschichte, Kunstgeschichte und Künstlerinnen bei der Gestaltung verschiedener Zukunftsvorstellungen spielen. Und das komplexe Erbe des ehemaligen „Ostblock“ in eine Zukunftsmaschine verwandeln.

Henrike Naumann, Iwano-Frankiwsk, Ukraine, 3. Oktober 2023

Breathe – a performance

Drum machine man – SI_Process
Volodymyr – Viktor Abramiyk
Estragon – Oleg Panas
Special objects – Counterfuture
Special thanks – Olga Diatel, Illia Ruzumeiko, Andrii Sokolov and the whole team of Ivano-Frankivsk Drama Theater

7. Oktober 2023, 15.00
Drama Theater
Ivano–Frankivsk, Ukraine

INFOS
Kyiv Bienniale 2023
On the Periphery of War – Ivano-Frankivsk
Kuratiert von Alona Karavai, Roman Khimei, Yarema Malashchuk, Anton Usanov

Photos
Prodigy 1995 – Youtube .com, theprodigyontour .com
Iron Maiden 1994 – Alex Elena, Milomir Kovačević Strašni
Waiting for Godot Sarajevo 1993 – Ahmed Imamovic / Milenko Uherka, Paul Lowe
Theweleit Schreibtisch 1987 – Klaus Theweleit
Ivano-Frankivsk Drama Theater – Olesia Saienko
Objects Kyiv Biennial – Henrike Naumann

CAPITOL JANUARY 6 – REICHSBÜRGER TAG X

Heute vor zwei Jahren vibrierte mein Telefon mit Nachrichten und Fotos vom Capitol Hill in Washington, D.C.: „Hast du das kommen sehen?“ Ich war verblüfft, denn ich hatte die Ästhetik der Capitol-Angreifer_innen bereits 2017 in meiner Installation Das Reich über die deutsche „Reichsbürger-Bewegung“ eingefangen. Bis letztes Jahr war ich noch nie in den USA gewesen.

In meiner Installation, die aus Möbeln, Objekten und Video besteht, habe ich eine visuelle Sprache entwickelt, um über die selbsternannten „Reichsbürger“ zu sprechen, die die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland bestreiten. Sie behaupten, dass das Deutsche Reich weiterhin an der Macht ist. Das Reich erzeugte eine dystopische Vision, in der die „Reichsbürger“ das Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin übernommen und eine Reichsnotstandsregierung mit Möbeln installiert hatten. Die Möbel ordnete ich in einer kultischen Formation ähnlich wie Stonehenge an.

Während des Sturms auf das Capitol am 6. Januar 2021 habe ich viel über dieses Werk nachgedacht. Nicht nur, weil die Ästhetik der Angreifer_innen in Washington im Detail meiner Installation entsprach, sondern auch wegen der Frage, wie man mit einer politischen Bewegung umgeht, deren Ästhetik als „merkwürdig“ bezeichnet werden könnte. Mir ist klar geworden, dass es eine Herausforderung ist, andere von der Gefährlichkeit von Menschen und Bewegungen zu überzeugen, wenn deren Selbstinszenierung komisch, lustig und lächerlich erscheint. Im Fall der „Reichsbürger“ handelt es sich um eine rassistische und gewalttätige Hassbewegung von Verschwörungsgläubigen, die während der Pandemie in ganz Deutschland immer mehr Anhänger_innen fand. Die Ästhetik ist trügerisch.

Im September 2022 eröffnete ich meine Ausstellung Re-Education im SculptureCenter in New York. Ich habe meine künstlerische Praxis aus dem deutschen in den amerikanischen Kontext übertragen. Erstens, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Arbeit, die sich mit der „Reichsbürger“-Bewegung in Deutschland befasst, einen neuen Weg ebnen könnte, um in einer künstlerischen Sprache über das zu sprechen, was am 6. Januar in Washington geschah. Zweitens habe ich mich gefragt, wie eine kritische künstlerische Praxis mit der Trump-Präsidentschaft und ihren Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft umgehen kann.

Ein zentrales Werk der Ausstellung, Rustic Traditions, befasst sich mit der Rolle, die Möbel während dem Sturm aufs Capitol spielten. Möbel wurden als Waffen und zur Erstürmung benutzt, während Kongressabgeordnete sich damit in ihren Büros verbarrikadierten oder sich unter ihren Schreibtischen versteckten, um sie als Schutzräume zu nutzen. Ein Angreifer legte seine Füße auf einen Schreibtisch im Büro von Nancy Pelosi und beanspruchte so symbolisch die Macht. Die Dringlichkeit der Ausstellung – die Verbindung der extrem rechten Verschwörungsszenen in Deutschland mit denen in den USA – trat erneut in den Vordergrund, als im Dezember 2022 ein Komplott zum Sturz der deutschen Regierung und zur Errichtung eines neuen „Reichs“ aufgedeckt wurde.

Nach 10 Jahren Forschung über die „Reichsbürger“-Bewegung und nach genauer Betrachtung der Ereignisse vom 6. Januar in Washington, was ist mein Vorsatz für das neue Jahr 2023? Wir müssen Menschen, die Wikingerhörner tragen und rustikale Waffen mit sich führen, ernst nehmen. Wenn wir weiter darüber diskutieren, ob sie eine Bedrohung darstellen oder nicht, werden sie die Regierungsgebäude und Institutionen übernehmen. Und dann wird es zu spät sein.

Photo Das Reich: Ladislav Zajac
Photos Re-Education: Charles Benton

Re-Education – SculptureCenter New York

H E N R I K E   N A U M A N N
R E – E D U C A T I O N


22. September 2022 – 27. Februar 2023
SculptureCenter
44–19 Purves Street
Long Island City, NY 11101
INFOS

Das SculptureCenter freut sich, „Henrike Naumann: Re-Education“ anzukündigen, die erste Ausstellung der in Berlin lebenden Künstlerin in den Vereinigten Staaten.Naumanns Installationen mit Möbeln und Designobjekten sind als Szenen komponiert, die drängende und dauerhafte Fragen stellen: Wie ist das Verhältnis zwischen Design und Ideologie? Wie sollte man die Politik des Designs lesen? Beeinflusst durch ihre eigenen prägenden Jahre, in denen sie in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und dann im vereinten Deutschland aufwuchs, befasst sich Naumann in ihren Arbeiten häufig mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die der westliche Konsumkapitalismus in den ehemaligen sozialistischen Staaten ausgelöst hat, und mit den Vorstellungen vom „guten Leben“, die weltweit (wenn auch ungleichmäßig) entstanden sind. Naumann setzt sich mit den vielen heute sichtbaren Nebenwirkungen auseinander: Millennial-Bourgeoisie, sozioökonomische Unzufriedenheit, antagonistische Orientierungen gegenüber politischer Macht und virulenter Extremismus. Ihre Installationen sind Fallstudien über anhaltende kulturelle Momente, ungelöste politische Fragen am Küchentisch und die Fähigkeit des Designs, die Vergangenheit zu versöhnen oder neu zu entfachen. Ihre Installationen positionieren die Betrachtenden sowohl als Gefangene in einem unterdrückerischen System globaler Produktion als auch als freies Konsumsubjekt. 

Im SculptureCenter hat Naumann eine Ausstellung mit Dutzenden von Einrichtungs- und Haushaltsgegenständen entwickelt, die eine kritische Parodie auf die zweifelhafte „Hufeisentheorie“ darstellt. Die „Hufeisentheorie“ wurde in den 1930er Jahren in Deutschland entwickelt und in den 1990er Jahren wiederbelebt, um sowohl die Parameter der politischen Mitte festzulegen als auch den Links- und Rechtsextremismus als gleichwertige Bedrohung dieser Ordnung zu behandeln – als wären sie die beiden Enden eines Hufeisens, die sich von der Mitte wegbiegen und im gleichen Tempo außer Kontrolle geraten. Naumanns Ausstellung weist solche oberflächlichen und irreführenden Kategorisierungen von Zentren und Extremen zurück, indem sie eine idiosynkratische Untersuchung ländlicher Sensibilitäten in der amerikanischen Innenarchitektur durchführt, von Faux-Bois-Stühlen bis hin zu den Bauernhaustüren der vorstädtischen Cul-du-sac. Naumann betrachtet die Vereinigten Staaten als interessierte Außenstehende und nutzt vorgefundene Objekte, um überkommene Vorstellungen und Erwartungen an den demokratischen „Westen“ zu testen, ebenso wie den fragilen Idealismus und die Amnesie, die in den Normen bestimmter rustikaler zeitgenössischer Designprinzipien zum Ausdruck kommen. Naumanns Arbeiten eignen sich gut für eine Zeit, die sich sowohl der Diversität politischen Identifikationen als auch der Fehlinterpretation ästhetischer Hinweise bewusst ist. Sie fordern die Betrachtenden auf, sich auf eine konspirative Befragung über die tiefere Natur der Objekte einzulassen, die unser tägliches Leben bestimmen: Gibt es so etwas wie ein libertäres Sofa, einen linksextremen Hocker oder einen neokonservativen Sessel, und werden sie in verschiedenen Geschäften verkauft?

Naumanns Ausstellung bezieht sich auf zwei Phänomene: zum einen auf den Einsatz antifaschistischer „Umerziehungs“-Programme, die von den alliierten Streitkräften entwickelt wurden, um die Demokratie in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wiederherzustellen, und zum anderen auf die spätere, implizite Selbst-„Umerziehung“ nach 1989 derjenigen, die in ehemaligen sozialistischen Staaten lebten. Für Naumanns Generation nach 1989 war die „Umerziehung“ durch eine importierte amerikanische Popkultur (Naumann nennt die Familie Feuerstein als Prüfstein) sowie eine durch Konsum zentral, denn im Wesentlichen zog der “Westen” durch Einzelhandel und Medien in die ehemals kommunistische Gesellschaft ein. Die Ausstellung umfasst auch einen Überblick über mehr als zehn Videoarbeiten von Naumann, die zwischen 2012 und 2022 entstanden sind.

Naumanns Projekt, das die geopolitischen Bedingungen der Ära des Kalten Krieges neu formuliert, eröffnet ein Bewusstsein dafür, wie wir inmitten der Ruinen der Ideologien des 20. Jahrhunderts leben, die von der US-Macht in den letzten Jahrzehnten exportiert und re-importiert wurden – besonders sichtbar für eine Generation, die geboren wurde, als sich der Kalte Krieg seinem Ende zuneigte. Mit trockenem Humor geht Naumann in ihrer Ausstellung der Frage nach, wie sich heutige und nachfolgende Generationen „umerziehen“, indem sie an einer sich ständig verändernden Wirtschaft teilhaben, sich an Designkonventionen anpassen oder sich umgekehrt an den Rand drängen, wenn sich ein vermeintliches politisches „Zentrum“ im Laufe der Zeit ausdehnt und zusammenzieht.

Henrike Naumann: Re-Education wird kuratiert von Kyle Dancewicz, stellvertretender Direktor des SculptureCenter, mit Christopher Aque, Ausstellungs- und Programmmanager. Kuratorischer Assistent des Projekts: Leo Cocar.


Unterstützt von LEAP.
Zusätzliche Unterstützung für Henrike Naumann: Re-Education wird vom Institut für Auslandsbeziehungen e.V. und dem Goethe-Institut New York unterstützt.

Besonderer Dank geht an Materials for the Arts (MFTA).

Die Ausstellungen und Programme des SculptureCenter werden von Carol Bove, Lee Elliott und Robert K. Elliott, Richard Chang, Jill und Peter Kraus, der Anna-Maria und Stephen Kellen Foundation, Barbara und Andrew Gundlach, Jacques Louis Vidal, Miyoung Lee und Neil Simpkins, Eleanor Heyman Propp, Libby und Adrian Ellis, Candy und Michael Barasch, Sanford Biggers, Jane Hait und Justin Beal sowie Amy und Sean Lyons unterstützt.


Photos:
President George H.W. Bush and Russian President Boris Yeltsin at the White House horseshoe pitch, Washington, D.C, 1992. Photo: David Ake/Getty Images
Henrike Naumann: Re-Education, Bone chair (Savannah, Georgia)

Thank You For Bringing My Work Back Home

2000 in Gropius Bau Berlin

Donnerstag, 04.08.2022 17.00—19.30
Gropius Bau, 2. OG
Eintritt frei mit Anmeldung
INFOS

In diesem Vortrag und einem anschließendem Gespräch zwischen Valeria Schiller und Henrike Naumann, die digital aus New York dazu geschaltet wird, geht es um die kulturgeschichtlichen Verbindungen und Parallelen zwischen Kyiv und Berlin im Kontext der Teilung zwischen Ost und West und die Rolle kultureller Arbeit in Kriegszeiten. Als Kulisse für die Veranstaltung dient die Installation 2000 von Henrike Naumann. Die Arbeit wurde im PinchukArtCentre in Kyiv gezeigt, als Russland die Ukraine angriff, und ist nach ihrer Evakuierung nun im Gropius Bau zu sehen.

Bitte melden Sie sich bis zum Vortag der Veranstaltung an, indem Sie eine E-Mail mit Ihrem vollen Namen an events@gropiusbau.de senden.

In ihrem Vortrag setzt sich Valeria Schiller mit der historisch-politischen Bedeutung von Kulturarbeit und Archivierung zeitgenössischer Kunst in und aus der Ukraine auseinander. Historische Kontexte werden so mit der jüngsten Reise der Installation 2000 von Henrike Naumann verbunden. Anschließend wird sie ein Gespräch mit Henrike Naumann führen, die digital aus New York dazu geschaltet wird. Das Gespräch wird von Zippora Elders, Leiterin der Kuratorischen Abteilung & Outreach am Gropius Bau, moderiert.

Diese Veranstaltung behandelt Themen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, Gewalt und Vertreibung.

Die Kunsthistorikerin, Kuratorin und Kunstkritikerin Valeria Schiller lebt seit März 2022 in Berlin. Von 2016 bis 2018 arbeitete sie im Archiv der Forschungsplattform des PinchukArtCentre in Kyiv, 2019 als Junior-Kuratorin des PinchukArtCentre und im kuratorischen Team vom Babyn Yar Holocaust Memorial Centre. Seit 2019 unterrichtet sie Kunstgeschichte an der Kyiv Academy of Media Arts.

Henrike Naumann wurde in Zwickau, DDR, geboren und lebt und arbeitet in Berlin. Sie reflektiert gesellschaftspolitische Phänomene auf der Ebene der Innenarchitektur und des Wohnraums und erforscht gegensätzliche politische Überzeugungen durch die ambivalente Ästhetik des persönlichen Geschmacks. Aufgewachsen in Ostdeutschland, erlebte Naumann die Neonazis als vorherrschende Jugendkultur in den 1990er Jahren. Daher interessiert sie sich für die Mechanismen der Radikalisierung und wie diese mit persönlichen Erfahrungen verknüpft sind.

Back Home wird von Zippora Elders und Julia Grosse kuratiert, mit Unterstützung von Leonie Schmiese, Lijuan Klassen und Sarah Crowe.

The Museum of Trance

Ghetto Biennale / Atis Rezistans
documenta fifteen Kassel, 2022

Das Museum of Trance ist eine fiktive Institution, die das Phänomen der Klangkultur des deutschen Musikgenres Trance der 90er Jahre erforscht. Um die Orgel herum gebaut, das zentrale Instrument der gottesdienstlichen Zeremonien, verbindet die Arbeit, die Strukturelemente der ethnographischen Historisierung und der Museologie kultureller Formationen. St. Kunigundis befindet sich in unmittelbarer Nähe des legendären Clubs ‚Stammheim‘ (1996), der bis 1994 ‚Aufschwung Ost‘ hieß. In der Kirche waren die Techno-Beats während der Sonntagsgottesdienste zu hören. Die Trance-Orgel verbindet diese verschiedenen spirituellen Sphären – als ob die Beats immer noch dröhnen würden.

Bastian Hagedorn / Henrike Naumann

Texte zur Ghetto Biennale

PDF zur Ausstellung in St. Kunigundis Kassel mit Infos zu allen Arbeiten

Film „The Sculptors of Grand Rue“ von Leah Gordon

Webseite Ghetto Biennale

Webseite Atis Rezistans

Katalog Ghetto Biennale

Texte zu documenta / NS-Geschichte

Hito Steyerl: Context is everything, except when it comes to Germany (deutsche Version)

Jörg Heiser: „Contested Histories“: on Documenta 15

Nanne Buurman: Northern Gothic: Werner Haftmann’s German Lessons, or A Ghost (Hi)Story of Abstraction

Nanne Buurman: d is for democracy? documenta and the Politics of abstraction between Aryanization and Americanization

Projekte zu documenta / NS-Geschichte

Kyiv

Meine Arbeit „2000“ hatte im ukrainischen Kontext eine besondere Bedeutung, da das Werk über das geteilte Deutschland vom Publikum als Metapher für die geteilte Ukraine gelesen wurde.

Ich bin einer der wenigen Künstler, die bis zum Beginn der Invasion sowohl in Kyiv als auch in Moskau ausgestellt haben. Die Arbeit an beiden Orten und die Begegnungen mit den Menschen dort haben mir ein Verständnis für die Situation und die bevorstehenden Probleme vermittelt. Ohne diese Auftritte wäre dieser Austausch nicht möglich gewesen.

Und dieser Austausch mit dem Publikum ist der Grund, warum ich tue, was ich tue.

Gestern sollte der letzte Tag unserer Show in Kyiv sein. Aber seit dem Beginn der Invasion in der Ukraine am 24. Februar ist das Museum verbarrikadiert.

Die Ausstellung in Moskau muss jetzt geschlossen werden.

Ich mache Shows für mein Publikum. Und mein Publikum in der Ukraine wird gerade umgebracht. Hier enden für mich die Möglichkeiten der Kunst.

Kunst und Krieg

Die letzten zwei Wochen war ich hauptsächlich online. Ich hielt den Atem an, während ich die Nachrichten über den eskalierenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland las. Und ich habe mir in den sozialen Medien die Selfies angesehen, die bei den beiden Ausstellungen gemacht wurden, an denen ich derzeit parallel in Kiew und Moskau teilnehme. Ich sehe meine Arbeit als einen Weg, um Kontexte und Grenzen zu überschreiten und an Orten zu kommunizieren, an denen ein Dialog schwierig oder unmöglich ist. Wenn ich sehe, wie sich junge Menschen in beiden Ländern mit den Werken auseinandersetzen, Nachrichten mit mir austauschen und Bilder von Besucher_innen aus dem jeweils anderen Land liken, verstehe ich, warum ich solche Ausstellungen mache – für das Publikum.

Es ist kein einfaches Unterfangen, Menschen an Orten zu erreichen, an denen Isolation, Unterdrückung, politische Unruhen und sogar Krieg herrschen. Ich muss deswegen gründlich abwägen, ob und welche Kompromisse ich für eine solche Ausstellung bereit bin einzugehen. Aber alle Künstler_innen, die jemals an einer internationalen Biennale innerhalb oder außerhalb der „westlichen Hemisphäre“ teilgenommen haben, kennen diese Abwägungen, denn alle Ausstellungen sind mehr oder weniger in die Machtstrukturen des globalen Kapitalismus eingebettet. Fragen der Finanzierung, der politischen Instrumentalisierung und der Macht stehen immer im Raum. Wie lässt sich eine Ausstellung in Ländern realisieren, in denen Menschen unterdrückt, eingesperrt oder umgebracht werden? In Zusammenarbeit mit dem Staat? Mit einem Oligarchen? Oder mit einer deutschen Institution, einem ‚ausländischen Agenten‘?

Ein Spiegel an der Wand der Arbeit "Ostalgie" in Moskau, Russland, darin ist die Hand und das Smartphone einer Besucherin zu sehen
Moscow, Russia 2022

In Deutschland findet gerade eine hitzige und wichtige Debatte über die selbsternannte „Kunsthalle Berlin“ statt. In einem offenen Brief geben Künstler_innen und Kuratoren_innen einen ausführlichen Einblick in das „System Smerling“ und seine Verflechtung mit Politik und Wirtschaft: Wem gehört die Öffentlichkeit? Außerdem gibt es eine Reihe von gut recherchierten Artikeln zum Thema von Niklas Maak für die FAZ. In der Kritik steht aber nicht nur die sogenannte „Kunsthalle“, sondern auch die Wanderausstellung „Diversity United“, an der ich mit meiner Arbeit „Ostalgie“ beteiligt bin und die zurzeit in Moskau gezeigt wird. Wie viele andere Künstler_innen, habe ich meine Arbeit bereits für weitere Stationen aus der Ausstellung zurückgezogen, wenn auch bis jetzt nicht öffentlich. Aber warum habe ich überhaupt an der Ausstellung teilgenommen, obwohl die politischen Implikationen für alle teilnehmenden Künstler_innen von Vornherein transparent waren?

Die Antworten auf diese Frage sind so vielfältig wie die Künstler_innen, die an der Schau teilnehmen. Eine könnte sein, bei Instagram die Location Новая Третьяковка (Neue Tretjakow-Galerie) einzugeben, wo jeden Tag Hunderte von Bildern mit Werken von Künstlern wie Wolfgang Tillmans, Gilbert & George, Sanja Iveković und Šejla Kamerić geteilt werden. Junge Menschen aus Moskau und ganz Russland posieren vor politischen Werken, die im heutigen Russland äußerst selten zu sehen sind. Diese Besucher_innen sind zwischen den 1990er und 2000er Jahren geboren, sie kennen Russland nur unter Putin. Seit dem Ausbruch der Pandemie vor zwei Jahren ist es ihnen nicht mehr erlaubt, nach Westeuropa zu reisen. Die Kurator_innen in Moskau berichten mir, dass es dem jungen Publikum sehr viel bedeutet diese Werke sehen zu können, aber auch vielen beteiligten Künstler_innen ist diese Ausstellung in Moskau ein wichtiges Anliegen. Einen Weg nach Russland zu finden und dort eine Arbeit zu präsentieren, die sich mit politischen Systemwechseln beschäftigt, war das Ziel meiner Teilnahme an „Diversity United“. Dieses Ziel habe ich erreicht und bin dafür bewusst einen Kompromiss eingegangen.

Besucherin posiert auf einem Hocker in der Arbeit "2000" in Kyiv, Ukraine
Kyiv, Ukraine 2022

Die Tretjakow-Galerie ist ein staatliches Museum. Den Kurator_innen gelingt es, unter schwierigen politischen Bedingungen bedeutende internationale Ausstellungen zu realisieren. Es ist wichtig zu verstehen, dass eine moralisierende Verwendung des Namens Putin im Zusammenhang mit einer Ausstellung in Russland in der Konsequenz bedeuten würde, dass es per se unmoralisch ist, ein Werk in einem Museum in Russland auszustellen. Was bedeutet das für mich als Künstlerin? Boykottiere ich das Publikum an Orten der Unterdrückung, wo die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen mein „sauberes“ moralisches Image als politische Künstlerin beflecken würde?

Diese Ausstellung ist insofern etwas Besonderes, als dass viele Künstler_innen aus dem ehemaligen „Ostblock“ mit ihren Werken teilnehmen. Sie leben und arbeiten in Ländern wie Russland, der Ukraine, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Polen oder Bulgarien. Sie haben nicht nur eine gemeinsame sozialistische Vergangenheit, sondern sind sich auch der politischen Verstrickungen von Künstler_innen mit staatlichen Institutionen und politischen Agenden sehr bewusst, vielleicht mehr als solche, die hauptsächlich in westlichen Institutionen arbeiten.

Besucherin posiert an der Wand der Arbeit "Ostalgie" in Moskau, Russland
Moscow, 2022

Wie das Kunsthallenfiasko und der offene Brief von Hito Steyerl, Clemens von Wedemeyer und Jörg Heiser sehr sichtbar machen, sind auch diese Institutionen in Macht- und Interessenstrukturen eingebettet. Warum organisieren private Interessengruppen Veranstaltungen in dieser Größenordnung und treten damit als demokratisch nicht legitimierte Akteure der auswärtigen Kulturdiplomatie auf? Welche Alternativen können geschaffen werden, damit in Zukunft Künstler_innen, die sich mit Künstler_innen und Publikum in politisch isolierten oder diktatorisch organisierten Staaten austauschen wollen, dies in einem anderen Rahmen tun können? Wird das Auswärtige Amt seine Politik ändern und ausschließlich direkt mit öffentlich legitimierten Organisationen wie dem Goethe Institut oder dem ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) zusammenarbeiten, welche die nötige Expertise für Kunst und Außenpolitik mitbringen? Und würde dies alle zukünftigen Fragen beantworten, die sich Künstler_innen bei jedem Projekt stellen müssen, das sie in Betracht ziehen?

Besucherin in Hijab, Jogginganzug und Sneakern sitzt auf einem Sofa in der Arbeit "2000" in Kyiv, Ukraine
Kyiv, Ukraine 2022

Sich als politische Künstler_in zu definieren, kann mehrere Dinge gleichzeitig bedeuten. Es kann bedeuten, eine zwielichtige Kunsthalle in der eigenen Stadt zu boykottieren, um für die Rechte der Kunstszene auf bezahlbare Ateliers und Ausstellungsräume zu kämpfen. Es kann auch bedeuten, sich für die Möglichkeit einzusetzen, in diktatorischen Systemen inmitten eines Krieges Ausstellungen zu zeigen. Diese Dinge in einen Gegensatz zueinander zu stellen, bei dem Künstler_innen sich entweder für diese oder jene Seite, für uns oder gegen uns entscheiden sollen, verkennt einerseits die Komplexität der Welt, in der wir alle leben und arbeiten. Andererseits könnte die jetzt angestossene Debatte – jenseits von Vereinfachungen und Polarisierungen – neue Wege aufzeigen, wie wir als Künstler_innen die uns umgebenden Machtstrukturen nicht nur kritsieren, sondern aufbrechen können.

Don’t be fooled by the aesthetics

2017 schuf ich für den Herbstsalon von Gorki die Arbeit „Das Reich“. Mit der Installation aus Möbeln, Objekten und Video habe ich versucht, eine visuelle Sprache zu finden, um über die selbsternannten „Reichsbürger“ zu sprechen, welche die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland leugnen und behaupten, das Deutsche Reich sei immer noch an der Macht. In der Arbeit schuf ich das dystopische Bild, dass die Reichsbürger das Kronprinzenpalais Unter den Linden übernommen und dort ihre Kommissarische Reichsregierung mit Möbeln installiert haben, angeordnet in einer kultischen Formation, die an Stonehenge erinnert. 

In diesen letzten Tagen, als ich die Millionen von Fotos vom Sturm aufs US-Kapitol sah, musste ich viel über dieses Werk nachdenken. Nicht nur, weil die Ästhetik im Detail zu dem Werk passte, sondern auch wegen der Probleme im Umgang mit einer politischen Bewegung, deren Ästhetik man als „seltsam“ bezeichnen könnte. Mir ist klar geworden, dass es schwierig ist, Menschen von der Gefährlichkeit von Personen und Bewegungen zu überzeugen, wenn ihr Aussehen und ihre Selbstinszenierung schräg, lustig und lächerlich erscheinen. Dabei ist das, was sie in der Gesellschaft produzieren, gefährlich und eine Bedrohung jenseits unserer Vorstellungskraft. Im Fall der „Reichsbürger“ handelt es sich um eine rassistische, white-supremacist und gewalttätige Hassbewegung von Verschwörungsideolog*innen, die während der Pandemie in ganz Deutschland immer mehr Anhänger fand. Lass dich nicht von der Ästhetik täuschen.