Breathe
Kyiv Biennial 2023
Drama Theater Ivano-Frankivsk, Ukraine
Presse
New York Times on the Kyiv Biennial
„the most energizing exhibizion of the year“
Süddeutsche Zeitung zur Kyiv Biennale
„Ausstellung des Jahres“
Monopol Top 100
22 – Henrike Naumann
RBB Kultur – Das Gespräch
Henrike Naumann – Kunst in konfliktreichen Zeiten
Infos
Drum machine man – SI_Process
Volodymyr – Viktor Abramiyk
Estragon – Oleg Panas
Special objects – Counterfuture
Special thanks – Olga Diatel, Illia Ruzumeiko, Andrii Sokolov and the whole team of Ivano-Frankivsk Drama Theater
7. Oktober 2023, 15.00
Drama Theater
Ivano–Frankivsk, Ukraine
Infos
Kyiv Biennial 2023
On the Periphery of War – Ivano-Frankivsk
Kuratiert von Alona Karavai, Roman Khimei, Yarema Malashchuk, Anton Usanov
Gegen die Logik des Krieges – Kyiv Biennale 2023
„Breathe the pressure
Come play my game, I’ll test ya
Psychosomatic, addict, insane
Breathe the pressure
Come play my game, I’ll test ya
Psychosomatic, addict, insane
Come play my game
Inhale, inhale, you’re the victim
Come play my game
Exhale, exhale, exhale“
The Prodigy – Breathe, 1995
Am 8. Dezember 1995 spielten The Prodigy zum ersten Mal ihren Song Breathe in der Pionir-Halle in Belgrad, Serbien. Es war die letzte Woche des Bosnienkriegs, und es war eine umstrittene Entscheidung für die britische Band, inmitten internationaler Sanktionen ein Konzert im Land des Aggressors zu spielen. Seit ich das Video von diesem Konzert gesehen habe, hat der Song für mich an Intensität und Gewalt gewonnen. Der Möglichkeitsrahmen einer Band, die die Grenzen von Clubmusik und klanglicher Transgression auslotet.
„When I was younger I thought
That to kill or be killed
Was a thing to be proud of
Victim of change
Prisoner of hope, hanged by the neck
On the end of a rope
I don’t know… I don’t care…“
Bruce Dickinson (Iron Maiden) – Gods of War, 1994
Ein Jahr zuvor, im Dezember 1994, hatte Bruce Dickinson von der Heavy-Metal-Band Iron Maiden mit seiner Band Skunkworks ein Konzert im bosnischen Kulturzentrum in der belagerten Stadt Sarajevo gegeben. Der Fotograf Milomir Kovačević Strašni erinnert sich: „Das Konzert habe ich in einer Art Dunst erlebt. Wahrscheinlich habe ich deshalb so viele Fotos gemacht. Ohne die Energie und den Wahnsinn hätte ich sicher nicht sieben Rollen Film verbraucht. Vielleicht waren es sogar meine letzten sieben Rollen. Die ganze Atmosphäre mit dem Publikum und all dem hat mich in eine andere Zeit zurückversetzt, in ein Leben, das ich früher gelebt habe, und in die Dinge, die ich vor dem Krieg gemacht habe.“ (Quelle: Dokumentarfilm Scream for me Sarajevo, 2016)
„V̶L̶A̶D̶I̶M̶I̶R̶ VOLODYMYR
Er hat nicht gesagt, dass er mit Sicherheit kommen wird.“
Samuel Beckett – Warten auf Godot, 1952
Ein Jahr vor diesem Konzert, im August 1993, hatte Susan Sontag Becketts Warten auf Godot am Jugendtheater von Sarajewo inszeniert. Ihr Biograph Benjamin Moser schreibt: „Diese Aufführung wurde ohne Elektrizität und ohne Kostüme, die diesen Namen verdienen, inszeniert, und das Bühnenbild bestand lediglich aus Plastikplanen, die von den Vereinten Nationen verteilt wurden, um von Heckenschützen zerschossene Fenster abzudecken.“ Während sie versuchte, internationale Aufmerksamkeit auf die Situation der Menschen in Sarajewo zu lenken, stieß ihr Engagement auch auf Kritik. Jean Baudrillard schrieb in seinem Text Kein Mitleid für Sarajevo: „Kürzlich kam Susan Sontag nach Sarajevo, um dort Warten auf Godot zu inszenieren. […] Das Schlimmste ist nicht diese zusätzliche Portion kultureller Seele. Es ist vielmehr die Herablassung und Fehleinschätzung von Stärke und Schwäche. Sie sind es, die stark sind, wir sind es, die schwach sind – und die in ihren Ländern nach dem suchen, was es braucht, um unsere Schwäche und unseren Realitätsverlust zu erneuern.“
„Für Frieden. Gegen Krieg. Wer ist das nicht?
Aber wie kann man diejenigen aufhalten, die auf Völkermord aus sind, ohne Krieg zu führen?“
Susan Sontag, 1999
Der Philosoph Boris Buden zitiert Baudrillards Kritik an Sontag in seinem Essay Field Trip to Reality von 1997. Sein 2009 erschienenes Buch Zone des Übergangs – Vom Ende des Postkommunismus wurde 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zu einem unverzichtbaren Werk für Künstler, Kuratoren und linke Intellektuelle im ehemaligen „Ostblock“, auch in der Ukraine. So waren die Ukrainer_innen zutiefst irritiert von seinem Text The West at War, der im April 2022 auf e-flux veröffentlicht wurde – als Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine. Da der einzig hoffnungsvolle Teil des Textes, der Schlussteil, in dem Buden in der Revolution innerhalb Russlands seine Vision für das Ende des Ukrainekrieges sieht, von vielen missverstanden wurde, bezog sich Buden in einer Podiumsdiskussion im September 2023 in Berlin auf diesen Textteil und stellte klar, dass er mit der Revolution eine „kommunistische Weltrevolution“ als Lösung der Situation gemeint hatte. Diese Aussage lies das ukrainische Publikum ratlos zurück. Die Missachtung der Lebensumstände der Ukrainer_innen, ihren Bedürfnissen und Forderungen zeigt, wie unverantwortlich es ist, die Schlussfolgerungen aus den Jugoslawienkriegen mit dem Krieg in der Ukraine zu vergleichen. Dieser Logik folgend, sollten all die Forderungen der Ukrainer_innen nach nationaler Souveränität und Respekt für ihre Grenzen zum Schutz ihrer Bürger nicht in Betracht gezogen werden, da sie sich auf nationales Recht berufen. Es ist aber umso wichtiger, auf die aktuellen Stimmen zu hören, die jetzt aus der Kriegsregion kommen.
„Wir müssen den Faschismus verstehen und bekämpfen, nicht weil ihm so viele zum Opfer gefallen sind, nicht weil er dem Siegeszug des Sozialismus im Wege steht, nicht einmal, weil er „wiederkommen“ könnte, sondern vor allem, weil er als eine unter bestimmten Bedingungen ständig präsente und mögliche Form der Wirklichkeitsproduktion zu unserer Produktion werden kann und wird.“
Klaus Theweleit – Männerphantasien, 1987
Klaus Theweleits Buch Männerphantasien aus dem Jahr 1987 kann als eines der Standardwerke zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Phantasien einer Gruppe von Männern, die eine entscheidende Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus spielten. Seine Perspektive auf die Ideologie, die die Männer prägte, die für die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verantwortlich waren, hat mir geholfen, die Wurzeln des Faschismus in Deutschland zu verstehen und auch, wie diese Strukturen bis heute weiterleben. Ich respektiere sein Schreiben und Denken sehr, deshalb war ich schockiert über seine Aussagen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. „Wenn die Leute nach Waffen schreien, höre ich in erster Linie: sie machen innergesellschaftliche Freiheiten bei uns kaputt. Jedenfalls sind sie auf dem Weg.“ (Klaus Theweleit im Gespräch mit Jakob Augstein, 2023). Wo er sich weigert, die Situation der Ukrainer zu sehen und zu verstehen, die in Frieden, frei und selbstbestimmt leben wollen. Dass die pazifistische Forderung nach einer Kapitulation der Ukraine vor dem Aggressor in einem völkermörderischen Krieg die Machtdynamiken verstärkt, die er in Männerphantasien so treffend beschrieben hat. Ich habe mir die Freiheit genommen, Theweleit selbst zu zitieren, und zwar aus seinem Buch über den Kolonialismus, das uns, wenn wir es in den Kontext des imperialen Krieges Russlands stellen, die Augen öffnen kann für die Schwierigkeit, von den Opfern eines Krieges Pazifismus zu verlangen:
„Welche Chance habe ich, ein Pazifist zu sein, wenn alle Kulturtechniken, durch die ich atme, wahrnehme, denke, produziere, durch die ich liebe und lebe, selbst Gewalt sind, wenn meine Friedfertigkeit selbst Gewalt einschließt?“
Klaus Theweleit – HON, 2020
Als ich die Einladung zur Teilnahme an der diesjährigen Kyiv Biennale erhielt, dachte ich an The Prodigy, Susan Sontag und Iron Maiden und ihre Gründe, Kunst im Kontext eines Krieges zu machen. Was ist mein Grund, in die Ukraine zu reisen? Kann eine Biennale dazu beitragen, dass die Menschen in einem Kriegsgebiet in einem neuen Zustand der Normalität überleben? Und wird es außerhalb der Ukraine Empathie hervorrufen, wenn man nicht jeden Tag die gleiche Zerstörung sieht, sondern Menschen, die sich nach einem Leben in Frieden sehnen? Möchte ich meinen Sinn für die Realität wiedererlangen? Oder ist es so, dass ich die Bedeutung der Begriffe „Ost“ und „West“, nicht mehr aus der Perspektive Deutschlands bearbeiten kann, sondern es am aktuellen Kristallisationspunkt dieser Frage diskutieren muss, in der Ukraine?Ich nehme dies als Ausgangspunkt für das Projekt OSTBLOCK, das seit 2021 in Zusammenarbeit mit dem ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Entwicklung ist. Über mehrere Jahre hinweg werde ich in die Länder reisen, die diplomatische Beziehungen zur ehemaligen DDR hatten, und mit denen ein Künstleraustausch stattfand. Ich sehe meine Praxis in der Tradition dieser künstlerischen Beziehungen, die die ehemals sozialistische Welt umspannen. Heute, in einer Situation, die nicht mehr als „postsozialistisch“ bezeichnet werden kann und in der uns die kalten und heißen Kriege zwingen, die globale Ordnung neu zu überdenken, möchte ich die Rolle untersuchen, die Geschichte, Kunstgeschichte und Künstlerinnen bei der Gestaltung verschiedener Zukunftsvorstellungen spielen. Und das komplexe Erbe des ehemaligen „Ostblock“ in eine Zukunftsmaschine verwandeln.
Henrike Naumann
Iwano-Frankiwsk, Ukraine, 3. Oktober 2023