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Illiberal Lives

22. April – 27. August 2023
Ludwigforum Aachen

Identität ist unerreichbar. So banal sie klingt, so gewalttätig ist letztlich die Ablösung von Differenz, die sie bezeichnet. Das Wort Wiedervereinigung etwa wird weithin verwendet, und legt doch durch die Vorsilbe „wieder“ eine Identität zwischen dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1990 und beider Vorgängerstaat, dem von den Alliierten geteilten Deutschen Reich, nahe. Die Wiedervereinigung bezeichnet eine postfaschistische Nation, eine unmögliche Identität. In den fünf Werkkomplexen, die Henrike Naumann in Illiberal Lives als Ausgangspunkt der Ausstellung quer durch das Zentrum des Aachener Ludwig Forum legt, wird diese unmögliche Gegenwart des deutschen Faschismus aufgefaltet. Und sie wird deshalb so unentrinnbar, weil sie aus unseren alltäglichen Zusammenhängen aufsteigt, in Einrichtungen, zeitgeschichtlichen Ereignissen, Kunstgeschichten, Accessoires und Alltagsriten als stetige Latenz spürbar wird. Schon in den 1970er Jahren stellte Félix Guattari fest, dass der Faschismus nie endete, sondern lediglich seine gesellschaftliche Funktion änderte.

Naumanns Ruinenwert – Einstürzende Reichsbauten (2019–2023), eine Möbellandschaft auf blassrosanen Teppich im Zentrum der Ausstellungshalle, verbindet Möbelhausderivate postmodernen Designs mit rustikal, nationalnostalgisch anmutenden Holzmöbeln und reiht Geschlechterclichés des häuslichen Familienlebens in eine Horizontlinie ein, die dem Ausblick aus Hitlers Berghof am Obersalzberg nachempfunden ist. Hier steht Sommer in der Stadt (1972) des engagierten Staatskünstlers Alexander Rukawischnikow aus der Sammlung Ludwig: Eine Skulptur, die Teil einer Serie von Frauenfiguren des sonst für heroische Nationalmonumente bekannten Schülers Lew Kerbels ist. Dass es die generische Anonymität scheinbar alltäglicher weiblicher Idealform ist, die hier den Status Rukawischnikows als bis heute den Regierenden des russischen Staats eng verbundenen Produzenten nationaler Ästhetik überdeckt, fügt sich übergangslos in Naumanns häusliche Geschlechterordnung des Nachfaschismus. Wir bewegen uns in eine Wohnlandschaft nationaler Privatheit, in der der Faschismus ganz wörtlich den Horizont der Nachfolgegenerationen bildet, hier wie dort. Waren es 2019 bei Naumanns Ausstellung im Münchner Haus der Kunst die Originalmöbel der Erstausstattung 1938, hat Naumann 2023 Kontakt mit Menschen aufgenommen, die ihre ererbten Möbel aus der NS-Zeit über eBay Kleinanzeigen verkaufen. Ein in Nürnberg erworbener Holzschrank ist dem 1941 gefallenen Onkel Hansel gewidmet, und so bleibt der deutsche Faschismus eingraviert im westdeutschen Nachkriegsmobiliar.

Westlich hiervon hat Naumann aus der Sammlung Ludwig Vincent Desiderios großformatiges Triptychon Obsolescence and Perpetuity (1987) als Hintergrund ihrer Installation Evolution Chemnitz (2020) positioniert. Desiderios Verständnis des malerischen Realismus behandelt Szenerien des 20. Jahrhunderts im bildnerischen Stil des 19., letztlich ein vertakteter Naturalismus. Naumanns fünf vor ihm positionierten Videos wurden in unterschiedlichen Zimmern des Chemnitzer Elisenhofs, einem Hotel, das in demselben Hause beheimatet ist, wie der rechte Szene-Klamottenladen Thønsberg, mit einem Darsteller gedreht. Er mimt fünf Charaktere, Männer, die Momente politischen Aufruhrs in Chemnitz durchlaufen: 1919, 1945, 1992, 1998 und 2018. Diese Daten folgen nicht einer Auswahl, die Naumanns eigene Positionierung zu der politischen Ausrichtung der Ereignisse wiederspiegelt. Sie sind verbunden darin, dass sie alle lokale Kämpfe um die nationale Form beschreiben. Aber hier fallen (nostalgischer) Naturalismus und (politischer) Realismus auseinander, ihre Gewalten geraten im regionalen Leben aneinander. So existierte 1945 für rund 40 Tage eine freie antifaschistische Republik Schwarzenberg, ab 1998 versteckten sich die drei Kernmitglieder der rechtsradikalen Terrorgruppe NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) längere Zeit in Chemnitz, konnten sich hier sicher fühlen, und 2018 gründet sich nach einer tödlichen Messerattacke auf einem Stadtfest die rechtsterroristische Gruppe „Revolution Chemnitz“. Der Messerangriff fand in unmittelbarer Nähe von Lew Kerbels Karl Marx Monument statt, einem Künstler, von dem Naumann aus den Sammlungen des Ludwig Forum in Illiberal Lives zwei Arbeiten einbaut.

Naumanns Arbeiten sind politisch wie künstlerisch deshalb so nachhaltig, weil sie National- und Individualhistorie symbolisch nicht unterscheiden. Die Repräsentationsformen nationaler Identitätsbehauptungen, aus denen sich Jörg Immendorffs Naht (Brandenburger Tor – Weltfrage) von 1982-83 zusammensetzt, werden, wo seine monströse bemalte Bronzeskulptur im hinteren Teil der Ausstellungshalle in Naumanns Installation Das Reich (2017) einbezogen wird, unwillkürlich zur künstlerisch-nationalen Privatfolklore. Naumanns Arbeit, in der die Möbel ringförmig, wie Menhire, angeordnet sind, setzt sich mit den selbsternannten „Reichsbürgern“ auseinander, einer bewaffneten Gruppe, die den 1990 geschlossenen Einigungsvertrag zwischen DDR und BRD nicht anerkennen, und daher das Deutsche Reich für unabgeschlossen erklären, eigene Grenzen ziehen, eigene Pässe ausstellen. Doch der Horizont des Postfaschismus verweist auf die unabgegoltene Basis nationaler Hegemonien in der Konstitution aller Staatsbürger*innen nicht nur dort wo diese, wie die Reichsbürger, auf das Fortleben des Deutschen Reichs bestehen, sondern auch dort wo dessen Fortleben in BRD und DDR geleugnet wurde, und an Stelle von dessen Bearbeitung wieder Nostalgie tritt, etwa wenn bei Immendorff Rosa Luxemburg als aus ihrer Zeit gefallenen Märtyrerin in Bronze erscheint.

Für Betrachter*innen von Naumanns Werkkomplexen, die in einem der beiden Staaten aufgewachsen sind – was für die vier Kuratorinnen von Illiberal Lives ebenso wie für Naumann selbst gilt, jedoch auf kaum eine der ausstellenden Künstlerinnen zutrifft, ist es in Naumanns Räumen unmöglich, sich nicht selbst zu identifizieren. Die lokal über zweite Hand zusammengetragenen Möbelstücke, in die sie uns ebenso wie die Reichsbürger oder den NSU einbaut, sind zu generisch für die Einrichtungen der Elternhäuser, Jugendzentren, Gemeinderäume und Kinderzimmer, in denen wir uns aufhielten. Die massenhaften und endlosen Kopien von Designobjekten in das Warensortiment der Möbelhäuser sind zu konsistent, als dass wir Naumanns Identifizierung entkommen könnten. Und eine Identifizierung zu formulieren, aus der ich mich ausschließe, erschafft die Figur des Anderen, einen Standard nationalstaatlicher Grenzkontrollen, nach Außen wie nach Innen.

In Aachen intensiviert Naumann diesen Horizont durch In- und Auslandsbeziehungen der Sammlungen am Ludwig Forum: In ihren Installationen finden sich insgesamt sieben Werke aus dem Aachener Fundus, darunter die Skulpturen von Jörg Immendorff, Magdalena Jetelová, Lew Kerbel und Alexander Rukawischnikow. Mit dem Interesse der Ludwigs an der „Ostkunst“ und deren Auswahl, lässt Naumann einen anderen Aspekt westdeutscher Kultur sichtbar werden. Letztendlich ist der Blick in die Sammlungen in Aachen eine konsequente Ausweitung von Naumanns Auseinandersetzung mit der konsumistischen Sozialsignatur des bundesdeutschen Alltags und dessen Ausweitung auf den vormals sozialistischen Nachbarstaat. In ihren eigenen Arbeiten setzt dieser Zeitraum zwar in der Vereinigung 1990 an, aber in deren Elementen, ebenso wie in der Sammlung Ludwig, reicht das Verstehen dieser Zeit immer auch notwendig in deren Vorgeschichte zurück.

Ostalgie (2019-21), hier aufgebaut im Gegenüber von Evolution Chemnitz, verschiebt die Betrachter*innenperspektive und lässt den Horizont auf den Boden sinken. Teppich und Mobiliar wandern die Wand hoch und die Möbel und Einrichtungsgegenstände kippen aus ihrer Gegenwart. Naumann durchsetzt den ostalgischen Innenraum mit nostalgischen Motiven, massenkulturellen Primitivismen, comichaften Steinzeitformen. Die Rede vom Osten als Entwicklungsland, exemplarisch in der sogenannten „Buschzulage“ für in den Osten versetzte westdeutsche Beamte in den 1990ern, trifft in der von Naumann hierzu gestellten Kerbel-Arbeit, dem Modell eines Marx Monuments für Moskau, auf sozialistische Figuration, eine Kunstform, die in der westlichen Kunstgeschichte zuvorderst als nostalgisch gefärbter Entwicklungsmangel ausgelegt wurde.

In der im Eingangsbereich des Ausstellungsraums platzierten Arbeit 2000 (2018-22) schließlich ist die Vereinigung und ihr Nachspiel selbst der Ausgangspunkt der Arbeit, wird Birgit Breuels Laufbahn, als Treuhand Präsidentin ab 1991, und als Generalkommissarin der EXPO 2000 Weltausstellung in Hannover 2000, zur ikonischen Klammer einer Verelendung durch Kapitalisierung, die den Osten erfasste und in der gescheiterten Expo die Provinzialität der bundesrepublikanischen Wirtschaftsform ausstellte. In Wolfgang Mattheuers Jahrhundertschritt (1983-85) verengt sich der Staatsbürger zum gespaltenen Militaristen in bemalter Bronze. Er schreitet durch Magdalena Jetelovás Holzarbeit Der Setzung anderer Seite (1987) mit ihrem Überformat, den fast im vollen Umfang belassenen Holzstämmen und deren grober Bearbeitung. Sie nötigt die Besucher*innen der Ausstellung ihren Eintritt in die Kunstwelt wörtlich zu nehmen. Hier betreten wir Illiberal Lives, stehen vor Naumanns Traueraltar Deutsche Einheit (2018), gekrönt von Kerbels zweiter Arbeit in der Ausstellung: das Portrait Prof. Ludwig (1983). Nach Abschluss der Kooperationsverträge in den 1970ern wurde Ludwigs „Trinkfix-Schokolade“ an DDR-Schulen geliefert und ein monopolhafter Zugriff auf die marktlose DDR-Kunst eingerichtet. In Aachen zeigte Ludwig bereits 1979 seine „Kunst aus der DDR“, eine im Westen beispiellose Würdigung der Staatskunst Ost, vorvereinigt durch national ausgehandelten Kunstkonsum.

Text: Kerstin Stakemeier
Photos: Mareike Tocha

Podcast 30 Minuten Kunst – Die radikal guten Fragen der Künstlerin Henrike Naumann

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