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Ruinenwert

Haus der Kunst
München, 2019

Henrike Naumann macht sich die suggestive Kraft gebrauchter Möbel und Einrichtungsgegenstände zu eigen. Viele ihrer bisherigen Arbeiten thematisieren die Komplexität deutsch-deutscher Geschichte sowie Kontinuität und Wandel rechter Bewegungen. Daran schließen sich unmittelbar Fragen von Zugehörigkeit, Identität und deren Verunsicherung an. Für das Haus der Kunst hat Naumann die neue Rauminstallation Ruinenwert entwickelt. Ruinenwert zitiert die Architektur von Hitlers Berghof am Obersalzberg, der wie das ehemalige ,Haus der Deutschen Kunst‘ ein Repräsentationsbau der Nationalsozialisten war und von Gerdy Troost gestaltet wurde.

Betreten wird die Installation durch eine Nachbildung des Kamins der ,Großen Halle‘ des Berghofs. Auch das versenkbare Monumentalfenster der ,Großen Halle‘, das dort den Blick auf ein beeindruckendes Bergpanorama freigab, wird von der Künstlerin zitiert: Anstelle der Alpen blickt man auf die Silhouette ausrangierter Möbel aus den 1990er-Jahren, die mit blauen Gegenständen angereichert sind. Die Künstlerin spielt hier unter anderem auf Das blaue Licht an, den Titel des ersten Films der NS-Regisseurin Leni Riefenstahl, die später Propagandafilme im Auftrag der NS-Regierung realisierte.

In Ruinenwert fallen die Spuren der faschistischen Architektur mit Möbeln und Einrichtungsgegenständen der ursprünglichen Inneneinrichtung des Museums zusammen. Der minutiös gestaltete Raum, der unter anderem auch die ,Deutsche Architektur- und Handwerksausstellung‘ aufgreift, die während der NS-Zeit im ,Haus der Deutschen Kunst‘ stattfand, führt vor Augen, wie sich politische Ideologien und Machtstrukturen in Design, Dekoration und Inneneinrichtung manifestieren. Die in einem geschwungenen silbernen Rahmen präsentierte Videoarbeit Brecher thematisiert nationalsozialistische Mythenbildung und Ästhetik. Der Titel ruft die 2019 in den Medien geführte Debatte um das gleichnamige expressionistische Gemälde des bekennenden Nationalsozialisten Emil Nolde auf, das bis dahin im Büro der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel hing.

Doch wird die Gruppenschau im großen Oberlichtsaal jäh unterbrochen, den man Henrike Naumann überlassen hat. Die im Jahr 1984 in Zwickau geborene Naumann, die zunächst Bühnen- und Kostümgestaltung studierte, ist eine der spannendsten zeitgenössischen Künstlerinnen. Henrike Naumann erschließt die Bildhauerei für ihre Generation. Ihr Material sind Second-Hand-Möbel und Sperrmüll.

Catrin Lorch, Süddeutsche Zeitung

Das Video zeigt ein im Wind bewegtes Fell, das als Anspielung auf das Motiv des Nolde–Gemäldes gelesen werden kann. Während die Illustration des Festzugs, der zu den Eröffnungsfeierlichkeiten des ,Haus der Deutschen Kunst‘ geplant war, langsam von der Kamera abgefahren wird, werden von kleinen Figuren Miniaturmöbel und Objekte durch das Bild getragen, die sich auch in der Installation wiederfinden. Dazu ist das Barbarossalied, komponiert von Friedrich Silcher, zu hören. Was klingt wie ein Chor, ist in Wirklichkeit der Zusammenschnitt mehrerer Aufnahmen einer einzelnen Stimme, wobei dieser Eingriff nicht zuletzt kritisch auf die in der NS-Ideologie behauptete Einheit von ,Volk‘ und ,Führer‘ anspielt.

Einstürzende Reichsbauten
Kunsthaus Dahlem
Berlin, 2021

Neben dem Hissen der Hakenkreuzflaggen verkündete im Frühjahr 1933 das massenhafte Auftreten von Angehörigen der Partei und ihrer paramilitärischen Verbände unübersehbar die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Ihre neugewonnene Macht versuchten sie durch eine vollumfängliche Durchdringung der Gesellschaft insbesondere auch im privaten Raum zu manifestieren: durch Idealisierung konservativer Geschlechterrollen und Familienbilder, durch Auflösung und Umstrukturierung von Vereinen und Verbänden, durch die Einführung neuer Grußformen oder durch Vorgaben von staatsnaher Ästhetik in der Kultur und Kunst.

Wie sich diese politischen Prozess im privaten Raum etablierten und ausformten, zeigt die Ausstellung Einstürzende Reichsbauten, die sich der Verschmelzung von Kunst, Ideologie, und (Innen-)Architektur widmet. Sie erörtert, wie (Innen-)Architektur missbraucht werden kann, um politische Macht zu inszenieren und eröffnet einen Diskurs über das Private versus das Öffentliche in totalitären Regimen.

Dazu baut Henrike Naumann das ehemalige Staatsatelier des NS-Bildhauers Arno Breker – dem heutigen Kunsthaus Dahlem – in ein privat anmutendes Wohnzimmer um. Mithilfe der Originalmöbel von Paul Ludwig Troost – Sofas, Stühle, den Schrank des Direktionsbüros, Bänken, Kommoden und dem Interieur des ehemaligen ,Bierstüberls‘ – aus dem Haus der Kunst in München lässt Naumann künstlerische Installation und privates Interieur verschmelzen und verdeutlicht auf diese Weise, dass NS-Ideologie die gesellschaftliche Durchdringung keinesfalls nur im öffentlichen Raum, sondern in besonderer Weise auch im Privaten vollzog.

Einstürzende Reichsbauten
Distanz, 2021

In Einstürzende Reichsbauten setzen die Künstlerin Henrike Naumann, die Kunsthistorikerin Angela Schönberger und der Architekt und Designtheoretiker Andreas Brandolini Naumanns Arbeit Ruinenwert (2019) in ein diskursives Verhältnis zu Schönbergers Recherchen über Albert Speer und Brandolinis postmoderner Designtheorie.

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