English

Anschluss ’90

steirischer herbst ‚Volksfronten‘
Haus der Architektur Graz (AT), 2018

Wer hätte gedacht, dass sich die Dinge so schnell ändern würden? 1990 ereignete sich dann aber alles beinahe über Nacht. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ wurde in einem Ausbruch von Nationalgefühl „Wir sind ein Volk“ – und die deutsche ,Wiedervereinigung‘ plötzlich Wirklichkeit, so unwahrscheinlich dies auch noch wenige Monate zuvor erschienen sein mag. Mit ihrer neuen Installation für den steirischen herbst treibt die Künstlerin Henrike Naumann eine solche Unwahrscheinlichkeit weiter.

Naumann, die im ostdeutschen Zwickau aufgewachsen ist, das als eine der Brutstätten der Neonazi–Terrororganisation ‚Nationalsozialistischer Untergrund‘ (NSU) gilt, malt sich ein alternatives Geschichtsszenario für die deutsche ,Wiedervereinigung‘ aus. Die Welle völkischen Zusammengehörigkeitsgefühls schwappt auf Österreich über und das Land entscheidet sich schlagartig, sich seinerseits dem nun wiedervereinten Deutschland erneut anzuschließen. Ein solcher Neu-Anschluss fühlt sich ziemlich anders an als der von 1938 – keine endlosen Militäraufmärsche, sondern die Eröffnung immer neuer Möbelhäuser. Die Wiedervereinigung führt Österreicher und Ostdeutsche gemeinsam ungeahnten Möglichkeiten des Konsums zu!

Das Grazer ,Haus der Architektur‘ verwandelt sich zu einem Showroom für Möbel aus dem Jahr 1990. Das kitschige, postmoderne Design dieser Dekade ruft Erinnerungen an schnittige Autos hervor und bemüht eine schräge Vorstellung von Glamour. Es bringt die Besucher_innen zurück zu verdrängten ästhetischen Verirrungen und verschwiegenen Brüchen in der deutsch-österreichischen Geschichte. Hedonistische Selbstoptimierung und rechtsradikale Politik verschlingen sich und wuchern zu unheimlichen Proportionen.

Westalgie
Centre d’art contemporain
la synagogue de Delme (FR), 2022

Anlässlich ihrer Ausstellung Westalgie im ‚Centre d’art contemporain – la synagogue de Delme‘ reaktiviert Henrike Naumann die Installation Anschluss ’90 (2018) und passt sie an die chaotische Geschichte des Gebiets von Delme zwischen 1870 und 1945 an, als Moselle zeitweise zum Deutschen Reich gehörte und sich nach Westen ausbreitete. Anschluss ’90 wurde ursprünglich für die Präsentation in Österreich konzipiert, einem der ersten Länder, die an Nazi-Deutschland angeschlossen wurden. Das Werk zeigt einen Ausstellungsraum aus den frühen neunziger Jahren, der als Schauplatz einer Geschichte gedacht ist, in der man sich vorstellt, dass sich auch Österreich nach der ‚Wiedervereinigung‘ von BRD und der DDR dem neuen Groß-Deutschland anschließt. Doch statt Militärparaden wie 1938 sind es Möbelhäuser und ein Konsumrausch, die diese ‚Wiedervereinigung‘ kennzeichnen, in der sich Hedonismus, Kitsch und radikale nationalistische Politik verbinden. Für die Neuauflage in der Synagoge fügt die Künstlerin diesem Vereinigungseifer den ehemaligen ‚Gau-Westmark‘ hinzu, der unter anderem das heute in Frankreich liegende Départements Moselle umfasst. Das Gebiet wurde während der Nazi-Besetzung von 1940 bis 1945 in das deutsche Reich integriert, während dieser zeit durchquerte die Adolf-Hitler-Straße Delme. Auf einem Teppich, der die Karten dieser verschiedenen Gebiete darstellt, die „Anfang der 1990er Jahre annektiert“ wurden, reaktiviert der Ausstellungsraum im Erdgeschoss seine Funktion als Anziehungspunkt und Verführung.

Im Obergeschoss können die Besucher diese verschiedenen Gebiete von einer dominanten Aussichtsplattform aus beobachten, wie sie in ihrem Wandel von einem Land zum anderen, von einer Ideologie zur anderen erstarren. Ob in Saulnois, wo bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen die Rechtsextremen massiv an Stimmen gewonnen haben, oder in Moselle, wo deutsche Neonazi-Gruppen einen Weg gefunden haben, den Geburtstag Adolf Hitlers zu feiern – Westalgie erinnert uns an die Permanenz einer tiefen Sehnsucht nach nationalistischen Mythen, die von einem ganzen Teil der westlichen Bevölkerung aufrechterhalten wird, der zu vielfältigen Ängsten neigt. Sie zeugt von der Dringlichkeit und Relevanz des künstlerischen Engagements gegen die Wiederkehr des Faschismus und seiner jüngsten Ableger.

Presse

Zur Startseite